Die nordindische Sakralarchitektur im interkulturellen Vergleich

Die Schemata der Sakralarchitektur sind über die Jahrhunderte in den verschiedenen Weltreligionen weitgehend konstant; bestimmt durch praktische und liturgische Erwägungen, die einen Bautyp vorgeben, der sich in seinen Grundzügen trotz aller stilistischen Wandlungen erhält. So bleiben im christlichen Kulturraum die Kirchen als Hallengebäude, die einer möglichst großen Gemeinde Unterschlupf bieten sollen, oftmals gepaart mit einem oder mehreren Glockentürmen als Bautyp dominierend. Im muslimischen Kulturkreis ist der Sakralbau ebenfalls von großen Hallengebäuden geprägt, die oftmals von einer Kuppel überwölbt sind, an die Minarette angelagert sind. Der Hindutempel unterliegt gleichfalls einem Stereotyp, das nach nordindischer und südindischer Bautradition variiert, dem Nagara- und dem Dravida-Stil. Im vorliegenden Aufsatz wollen wir uns auf den nordindischen Tempeltyp beschränken. Das nordindische Nagara-Schema ist dabei in Abgrenzung zum südindischen Tempeltyp zu verstehen, also mehr eine baugeschichtliche Kategorie und keine geographische. Das nordindische Tempelschema ist hinsichtlich seiner Ausbreitung nicht auf Nordindien beschränkt, sondern findet sich in Variationen auch im weiteren asiatischen Raum, von Thailand über Kambodscha bis nach Indonesien. Gleiches gilt für die religiöse Anwendung dieses Bauschemas, das seinen Ausgang im Hinduismus hat, aber auf Jainismus und Buddhismus übergreift.

Im Zentrum des nordindischen Tempels liegt die Garbhagriha (sanskrit; sinngemäß „Schoßhaus“ oder „Mutterschoßkammer“ von garbha‚ `Bauch, Schoß´ und griha für `Haus, Kammer´). Die Garbhagriha ist zumeist ein kleiner, fensterloser Raum, in dem sich das Heiligtum des Tempels befindet, zumeist ein Lingam oder eine Götterstatue. Die Garbhagriha entspricht dem Allerheiligsten oder der Cella und an dem in ihr aufbewahrten Kultbild lässt sich erkennen, welcher Gottheit der Tempel geweiht ist. Die Garbhagriha stellt den Hindutempel in seiner Kernform da. Nur den Brahmanen war es vorbehalten, den Tempel zu betreten und die Tempelrituale, zum Beispiel die Opfergaben für die Götter, zu vollziehen. Vermutlich um den Gläubigen einen vor Hitze oder Monsun geschützten Raum zu geben, ohne dass diese das Allerheiligste des Tempels betreten, ist der Garbhagriha zumeist eine säulengestützte Vorhalle angelagert, die Mandapa. Die Garbhagriha ist oft überwölbt von einem pyramidalen oder konisch aufragenden Shikhara, der vielfach jene für den nordindischen Stil charakteristische konvexe Wölbung angenommen hat. Das Ensemble aus Garbhagriha, Mandapa und Shikhara stellt das nordindische Tempelschema dar, das zwar vielfach variiert wird, sich im Grundsatz in den meisten hinduistischen Sakralbauten aber erhält.

Abb. 1 Vishvanatha-Tempel in Khajuraho, ca. 1000 vollendet. Der ambitionierte Tempelbau verfügt über drei vorgelagerte Mandapas. Das Tempelschema aus Garbhagriha, der der Shikhara aufsitzt, und vorgelagerten Mandapas ist gut zu erkennen.

Der Baukörper als Fläche für Ornament

Kennzeichnend für die indische Tempelarchitektur ist die Lastenverteilung mittels horizontaler und vertikaler Bauelemente. Das Verhältnis von Stütze und Last wird durch Deckenplatten sowie Wände, Säulen und Pfeiler gestaltet, wohingegen der tragende Bogen oder das Gewölbe kaum angewandt werden. Weniger weil die Techniken unbekannt gewesen wären, sondern wegen einer Verhaftung an überkommenen Traditionen. Das andere kennzeichnende Spezifikum ist die Betonung des gemeißelten Ornaments. Die Tempelbauten weisen entsprechende Charakteristika auf: Große überwölbte Innenräume sucht man vergebens, der Tempel dient also weniger der Beherbergung einer großen Anzahl Gläubiger, sondern der äußeren Anschauung. Dementsprechend wird das Gebäude wesentlich als Träger von Ornament – also figurativem und abstraktem Relief – begriffen. Der Bauschmuck des Tempels, mithin auch die Ästhetik der architektonischen Idee, basiert demzufolge ganz wesentlich auf der Reliefierung des Bauträgers: Tatsächlich bieten sich die indischen Tempel als eine kaum fassbare gestaltgewordene Phantasie von Auskragungen, Gravuren und Reliefs dar.

Dazu passt, dass bereits ab dem fünften Jahrhundert ganze Tempelanlagen mit dem Meißel gebildet wurden, indem sie aus dem massiven Fels herausgeschlagen wurden. Die vorwiegend in Maharashtra von Hindus, Jains und Buddhisten geschaffenen Tempelareale bestehen größtenteils aus Höhlen, daneben aber auch aus freistehenden Tempeln, die genau wie die Höhlen aus dem Fels gemeißelt wurden. Beispiele der überragenden Leistungen indischer Bildhauerkunst und darüber hinaus Beleg für die skulpturale Herangehensweise an Architektur. Tatsächlich wird in den freistehenden Felstempeln wie zum Beispiel dem Kailasa-Tempel oder dem Masrur-Tempel der gesamte architektonische Baukörper kunsthandwerklich wie eine Skulptur behandelt.

Abb. 2 Der Kailasa-Tempel, Ellora, Maharashtra, achtes Jahrhundert, ist aus dem massiven Fels geschlagen worden.
Abb. 3 Ebenso der Masrur-Tempel, Himachal Pradesh, achtes Jahrhundert.

Im Relief und den Steinmetztechniken sind die Leistungen der indischen Kunst denn auch unübertroffen. Der Vergleich mit der muslimischen Kunst fällt eindeutig aus, weil aufgrund des islamischen Bilderverbots die figurative Skulptur in der muslimischen Kunst nicht im gleichen Maße ausgeprägt ist. Auch im zeitgenössischen christlichen Europa waren das figurative Relief und die Freiplastik aufgrund der Verwerfungen der Völkerwanderungszeit und der frühchristlichen Skepsis gegenüber bildlichen Darstellungen nicht sonderlich weit entwickelt. Erst im 12. Jahrhundert finden sich die ersten nachantiken freiplastischen Statuen an frühgotischen Kirchenportalen; die skulpturale Darstellung von Körpern in bewegter Torsion wird noch weitere 200 Jahre auf sich warten lassen. Dementsprechend macht sich hier die Überlegenheit der indischen Kunst geltend: Die Tempel in Ellora (fünftes bis elftes Jahrhundert) und Khajuraho (zehntes bis zwölftes Jahrhundert) beispielsweise übertreffen hinsichtlich der Reliefs alles, was es vergleichbar zu diesem Zeitpunkt in der christlichen und der muslimischen Kunst gab. Sowohl was die abstrakten wie auch die figürlichen Reliefs betrifft. Weder in der Perfektion der Ausführung noch im Ideenreichtum der Figurenfindung gibt es im abendländischen und islamischen Kulturkreis zu diesem Zeitpunkt Vergleichbares. Erst in der Spätgotik und der Renaissance erlangt die Darstellung der Figur im künstlerischen Abbild in Europa ein vergleichbares Niveau. Die Figuren in Khajuraho bestechen trotz ihrer schematischen Idealisierung durch ihren Realismus und vor allem durch ihre Bewegtheit. In den grazilen Torsionen manifestiert sich ein Niveau der Darstellung bewegter Körper, das sich in Europa erst 4-500 Jahre später in der Renaissance zeigt.

Abb. 4 Vishvanatha-Tempel in Khajuraho, ca. 1000 vollendet. Reliefs an der Außenwand.

Der skulpturale Charakter

Doch der nordindische Tempel ist nicht nur Träger von Ornament. Er ist selbst in seiner Bauidee ebenso skulptural wie architektonisch. Auch bei den Tempeln, die nicht aus dem Fels gemeißelt wurden, sondern aus Ziegeln oder geschichteten Steinblöcken errichtet wurden, ist der Bau beherrscht von einer skulpturalen Grundidee. Darin unterscheidet der indische Tempel sich grundlegend von Kirchen und Moscheen, die in erster Linie Gebäude sind, also Versammlungshalle für eine möglichst große Anzahl von Menschen, die sich im Innern des Gebäudes zusammenfinden. Moschee und Kirche sind das Haus Gottes und der Menschen. Der indische Tempel ist zu allererst Anwesenheitsstätte des Gottes, aber nicht Versammlungsraum der Gläubigen, die hier gemeinsam Predigten hören und Gebete sprechen. Insofern der Hindutempel als Wohn-, Kult- und Opferstätte der Gottheit und nicht als Versammlungshalle der Gläubigen gedacht und gebaut wird, ist er viel weniger den zweckorientierten Prämissen der Architektur unterworfen, sondern primär als ästhetische und symbolische Form verstanden. Seine Größe, sein Material, seine Gestalt unterliegen also zuerst ästhetischen und symbolischen Anforderungen, ähnlich einer Skulptur.

Auch der Hindutempel ist nicht zweckfrei, sondern muss liturgischen Ansprüchen genügen: Die Garbhagriha beherbergt das Heiligtum und hält eine Öffnung bereit zum Empfang der Opfergaben. Die Garbhagriha ist oftmals von einem Umgang hinterfangen für die rituelle Umrundung des Heiligtums. In seiner äußeren Gestalt ist der Baukörper aber symbolisch geformte Masse. Dies gilt vor allem für das prägnanteste Merkmal indischer Tempel: Den Shikhara. Er ist als aufragendes Element weder Dach im eigentlichen Sinne noch Turm im Sinne eines besteigbaren Aussichtsgebäudes. Er überwölbt die Garbhagriha nicht; es gibt keine Verbindung von der Cella zum Turm darüber, der also auch von Innen nicht bestiegen werden kann. Während ein Glockenturm und ein Minarett möglichst hoch und begehbar sein müssen, um den Glockenschlag und den Muezzin weithin hörbar zu machen, ist ein Shikhara frei von solchen Zweckforderungen. Seine Baumasse ist ganz und gar Träger ästhetischer und vor allem symbolischer Bedeutung: Er ist Skulptur.

Eine Skulptur kann aber nicht gesehen und genossen werden, wenn sie zu hoch ist. Auch darum müssen die Shikharas kleiner sein. Wären sie hoch wie die Türme europäischer Kirchen, könnte sich der Betrachter zu ihnen auch nicht mehr in intuitive Relation begeben. Er könnte die Höhe und Massigkeit des Shikharas nicht mehr in ein unmittelbar empfundenes Verhältnis zu seiner eigenen Größe und Gestalt setzen. Der Shikhara würde in der unteren Geschosszone ja sehr an Breite gewinnen, dass er wie eine Wand wirkte, so dass der zusätzliche Gewinn an Höhe dadurch so stark kompensiert würde, dass seine unmittelbar ragende, emporstrebende Wirkung gemildert würde.

Abb. 5 Gerade die im Vergleich zu Türmen geringe Größe des Shikharas macht dessen aufragende Gestalt dem davorstehenden Betrachter unmittelbar spürbar.

Nach allgemeiner Übereinkunft stellt der Shikhara den Weltenberg Meru dar, der gemäß hinduistischer, jainistischer und buddhistischer Mythologie im Zentrum des Kosmos steht. Die Tempelsilhouette aus Shikhara, Nebenshikharas und Mandapa soll also ein Gebirge nachbilden. Indem er einen Berg nachbildet, ist er also kein architektonischer Baukörper, sondern eine auf der Architektur aufsitzende Freiplastik. Diese Freiplastik besticht zum einen durch ihre Form, zum anderen durch die vielfache kunstvolle Strukturierung ihrer Fläche durch Auskragungen und Relief, was auf den gesamten übrigen Baukörper des Tempels übertragen wird. Demensprechend ist der Tempel in erster Linie kein Haus, das Schutz vor Kälte und Regen bieten muss, sondern ein Heiligtum, das von außen angeschaut werden kann und daher von außen in erster Linie zunächst einmal Träger von Schmuck – sei es als kunstvolle multiple Auskragung oder als Fläche für Ornament in Form von abstraktem und figurativem Relief.

Abb. 6 Der Baukörper ist Träger von Relief. Kandariya-Mahadeva-Tempel, Khajuraho, elftes Jahrhundert.

Als solches stellt der Tempel kein Haus im eigentlichen Sinne dar, sondern ein begehbares Kult- und Opfermonument, das gleich einem Monument verziert und geschmückt ist, dessen Form bereits Zierde und Schmuck ist. Der Tempel ist wesentlich dazu da, von außen gesehen und bewundert zu werden. Von innen sind die Bauten vergleichsweise beengt und düster und hinsichtlich ihres Raumkonzepts eher von der hier anwesenden Gottheit als von der diese Gottheit verehrenden Gemeinde her gedacht und gebaut.

Abb. 7 Vishvanatha-Tempel in Khajuraho, Innenansicht.

Unter rein architektonischen Gesichtspunkten stellen die Tempel eine schlichte Gebäudeform dar. Der Zweck der Hindu- und Jaintempel in ihrer Urform beschränkt sich darauf, der Gottheit eine würdevolle Umgebung zu verpassen. Eine dunkle Altarhöhle, die Garbhagriha, darüber der aufragende Shikhara, nicht begehbar, nicht besteigbar, komplett zweckbefreit, dazu ein säulenumstandener Vorbau als Halle für die Gläubigen. Trotz ihrer auf den ersten Blick Aufsehen erregenden, bizarr wirkenden Silhouette, ist diese Tempelgestalt in ihrer radikalen Reduktion auf Sakralbedürfnisse zu Lasten jeglicher Zweckhaftigkeit eines Gebäudes, ein Ausdruck sich zurücknehmender Architektur zugunsten von Plastik und Ornament. Dies gilt sogar für die künstlerisch und stadtplanerisch ausgereiften Tempelstätten in Angkor. Bei den dortigen gigantischen Kultstätten handelt es sich im Wesentlichen um Pyramiden mit darauf aufgepflanzten Garbhagrihas und darüber sich türmenden Shikharas. Insofern bei Pyramiden der Monument- den Gebäudecharakter überlagert, handelt sich auch hier streng genommen eher um begehbare Skulpturen und weniger um Gebäude.

Abb. 8 Tempelpyramide im inneren Tempelbezirk von Angkor Wat.
Abb. 9 Tempelpyramide des Ta Keo Tempels, Angkor, Kambodscha.

Folgerichtig verausgabt sich das Genie beim nordindischen Tempel vor allem in der Ornamentierung und den unglaublich ausdifferenzierten und verspielten Aus- und Einkragungen der Wände und des Shikharas. In der Bauidee bleibt das hinduistische Schema aus Garbhagriha, Shikhara und Mandapa an Komplexität hinter den zeitgenössischen Moscheen oder den später im Mittelalter entstehenden Kirchen zurück. Diese sind konzeptionell aufwendiger und komplexer. Die Bauten sind dort mehr Architektur, mehr Gebäude und loten die Möglichkeiten, die ein Gebäude bietet, viel mehr aus und eröffnen so neue Möglichkeiten des ästhetischen Genusses. Einer davon ist die schlichte, überwältigende Größe islamischer Moscheen oder abendländischer Kirchen. Dieser, aber auch vieler anderer Möglichkeiten beraubt sich das hinduistische Tempelschema: Es gibt kaum Fenster, Emporen, Geschosse, …usw. Ein Grund dürfte sicherlich sein, dass es im Hinduismus kein in ihrer Institutionalität vergleichbares Äquivalent zur Kirche gibt. Von daher hat die hinduistische Priesterschaft auch kein vergleichbares Macht- und Repräsentationsbedürfnis. Der Tempel ist noch in erster Linie Herberge des Heiligtums und nicht primär Machtausdruck der Institution Kirche.

Einen weiteren Grund mag man darin vermuten, dass der indische Tempel in einem ganzjährig warmen Land erbaut wurde, das kultische Verehrung im Freien erlaubt, sowie im künstlerischen Einfluss der Höhlenarchitektur, in der frühzeitig Tempel aus dem massiven Fels gehauen wurden, also skulptural behandelt wurden, was sich auf die freistehenden und gemauerten Tempel in der Gestaltung ausgewirkt haben könnte. Aber frühe Höhlenarchitektur hat es – wenn auch in geringerer Brillanz der Ausführung – auch in Südeuropa und im Nahen Osten gegeben, ohne dass christliche und muslimische Tempelbauten jenen skulpturalen Charakter angenommen hätten. Die ganzjährige Wärme nehmen die muslimischen Architekten in ihre Formfindung in der Weise auf, dass sie offene Hallengebäude mit großem Hof zur Versammlung der Gläubigen schaffen, ohne dass die Moschee ihren hallenartigen Gebäudecharakter zugunsten eines Monumentcharakters verlöre.

Die erotische Symbolik von Shikara und Garbhagriha

Die Gründe für den skulpturalen Charakter müssen also woanders liegen. Hierbei könnte die sich unmittelbar aufdrängende phallische Erscheinung des Shikharas eine Rolle spielen. In seiner oftmals auftretenden Form als konvex gewölbter Konus oberhalb der Garbhagriha erweckt er sexuelle Assoziationen, die befeuert werden durch die sprachliche Identifikation der Garbhagriha mit dem weiblichen Gebärorgan („Schoßhaus“ oder „Mutterschoßkammer“). Umso mehr als die meisten Tempel Shiva geweiht sind und im Heiligtum, also in der Garbhagriha das Shivasymbol des Lingams beherbergen, der in der Yoni, der symbolischen Verkörperung des weiblichen Genitals, steckt. Diese koitale Symbolik der Skulptur des Lingams in der Yoni scheint sich architektonisch in der Garbhagriha, die von dem aufragenden Shikhara überwölbt wird, zu wiederholen.

Abb. 10 Lingam in der Garbhagriha des Kandariya-Mahadeva-Tempels in Khajuraho.
Abb. 11 Lingam in der Garbhagriha des Kandariya-Mahadeva-Tempels in Khajuraho, Detail.

Zudem sind zahlreiche Sakralbauten, gleich ob Hindu- oder Jaintempel, mit erotischen Reliefs geschmückt, die das sexuelle Implikat des religiösen Kults offen zum Ausdruck bringen. Das Heiligtum ist vielfach umstellt von freizügigen weiblichen Figuren, die oftmals Gottheiten darstellen und deren Anwesenheit durch diverse religiöse Legenden motiviert sein mag, die in ihrer Darstellung aber oftmals so eindeutig erotisiert sind, dass sie eine Verkörperung erotischer Sinnlichkeit als solcher darzustellen scheinen. Sie umstellen das Heiligste im Innern der Garbhagriha und umranken an den Außenwänden den Shikhara.

Abb. 12 Eindeutige erotische Darstellungen gibt es an zahlreichen Tempeln, besonders prominent in Khajuraho, aber auch an vielen anderen Tempeln, ohne dass die Tempelreliefs wie in Khajuraho komplett von einer erotischen Thematik dominiert werden.
Abb. 13 Beispielsweise vereinzelte verkehrende Paare wie hier in den Reliefs des Adinathtempels in Ranakpur.
Abb. 14 Aber auch wenn auf eindeutige koitale Darstellungen verzichtet wird, haben die weiblichen Gestalten, die an so vielen Tempeln zu finden sind, einen erotischen Charakter.

Dieser Interpretation steht entgegen, dass auch diejenigen Tempel, die nicht Shiva geweiht sind und keinen Lingam im Heiligtum zeigen, einen Shikhara über der Garbhagriha aufweisen. Zudem besteht die Übereinkunft, dass der Shikhara dem Weltenberg Meru nachempfunden sei. Tatsächlich aber ist es gut möglich, dass der Shikhara beide Funktionen erfüllt und dass die Gestalt der anderen Göttern geweihten Tempel sich an den Shivatempeln orientiert. Es ist auch ein Missverständnis, in der koitalen Symbolik von Lingam und Yoni sowie Shikhara und Garbhagriha nur einen Fruchtbarkeitskult zu erkennen. Dieser mag Implikat der Verehrung sein, darüber hinaus symbolisiert diese Darstellung aber die Energie der Erotik und des Lebens als solchem. Sie steht in unmittelbarem Bezug zur Askese der Yogis und Sadhus, die, indem sie sexueller Lust entsagen, jene Energie ins Meditativ-Religiöse überführen und so zu ihrer Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten beitragen. In dieser Hinsicht stellt die koitale Symbolik eine architektonische Parabel religiöser Triebsublimierung dar. All die sexuelle Lust, all die triebhafte Energie ins Religiös-Meditative gewendet verbürgt den religiösen Existenzgewinn, den Weg zur Erleuchtung.

Literaturverzeichnis

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Plaeschke, Herbert und Plaeschke, Ingeborg: Indische Felsentempel und Höhlenklöster. Koehler & Amelang, Leipzig 1982.

Doshi, Saryu: Dharna Vihara,Ranakpur, Stuttgart 1995.

Sorrel, Annie: Rajasthan. Des Citadelles du Desert a la Douceur du Mewar, Geneve 1986.

Volwahsen, A. und Stierlin, H.: Indien. Architektur der Welt Bd. 9, Lausanne o.J.

Zimmer, Heinrich: The Art of Indian Asia (2 Bde.), Princeton 1955.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Vishvanatha-Tempel, Khajuraho, Madhya Pradesh, Indien.

Abb. 2: Kailasa-Tempel, Ellora, Maharashtra, Indien.

Abb. 3: Masrur-Tempel, Himachal Pradesh, Indien.

Abb. 4: Vishvanatha-Tempel, Detail, Khajuraho, Madhya Pradesh, Indien.

Abb. 5: Shikahara, Khajuraho, Madhya Pradesh, Indien.

Abb. 6: Kandariya-Mahadeva-Tempel, Detail, Khajuraho, Madhya Pradesh, Indien.

Abb. 7: Vishvanatha-Tempel in Khajuraho, Innenansicht, Detail, Madhya Pradesh, Indien.

Abb. 8: Angkor Wat, innerer Tempelbezirk, Angkor, Kambodscha.

Abb. 9: Ta Keo Tempel, Angkor, Kambodscha.

Abb. 10: Kandariya-Mahadeva-Tempel, Innenansicht, Garbhagriha, Detail, Khajuraho, Madhya Pradesh, Indien.

Abb. 11: Kandariya-Mahadeva-Tempel, Innenansicht, Garbhagriha, Detail, Khajuraho, Madhya Pradesh, Indien.

Abb. 12: Relief, Detail, Khajuraho, Madhya Pradesh, Indien.

Abb. 13: Adinathtempel, Relief, Detail, Ranakpur, Rajasthan, Indien.

Abb. 14: Khajuraho, Relief, Detail, Madhya Pradesh, Indien.

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