Der Adinath-Tempel von Ranakpur

Der Adinath-Tempel von Ranakpur ist kunsthistorisch von besonderer Bedeutung, denn er überführt das klassische nordindische Tempelschema aus Garbhagriha, Shikhara und Mandapa mit den daraus folgenden begrenzten Innenraumkapazitäten in eine weite Säulenhalle, die nach innen zahlreichen Gläubigen Raum bietet und nach außen einen großen voluminösen Tempelbau bietet, der an bebauter Fläche und Mauernhöhe viele nordindische Hindu- und Jaintempel überragt. Somit bildet der Adinath-Tempel von Ranakpur eine Ausnahme unter den nordindischen Tempeln, indem er als Versammlungs- bzw. Wandelhalle fungiert, also auch ein Gebäude und nicht nur eine begehbare Skulptur sein will.1 Dabei gibt er das klassische Schema nicht etwa auf, sondern versucht das tradierte Muster mit den Anforderungen eines großen Gebäudes zu vereinbaren, wobei die Besonderheit in der offenen Struktur des Tempels liegt, der eine Synthese von offener Halle und geschlossenem Gebäude darstellt.

Der Tempel ist Adinath geweiht, dem ersten der 24 Tirthankarer (Furtbereiter), also den geistigen Führern des Jainismus. Gestiftet wurde er von Dharna Shah, einem Minister im Dienst der Rajputendynastie des im heutigen Rajasthan gelegenen Staates Merwar. Deren Herrscher, der Rana Kumbha, brachte sich ebenfalls als Stifter ein, wodurch der Tempel auch den repräsentativen Bedürfnissen des Rajputenfürsten genügen musste, was dessen überbordenden Prunk und seine Größe erklärt. Der Architekt Depaka begann – je nach Quelle – 1374 oder 1387 den Bau, der sich über 6 Jahrzehnte erstreckte und schließlich zu einem der prächtigsten Bauwerke des nordindischen Tempelstils wurde, der unter den jainistischen wie auch hinduistischen Sakralbauten heraussticht.

Abb. 1 Der Adinath-Tempel Gesamtansicht. Foto © by Thomas Dix, auf dessen ausgezeichnete Publikation hier ausdrücklich verwiesen sei: Jainism And The Temples Of Mount Abu And Ranakpur. Neu Delhi 1998. Mit einem Text von Lothar Clermont, der eine kurze Einführung in dem Jainismus bietet und viel Erhellendes zur Symbolik des Tempels darlegt. Herausragend die zahlreichen großformatigen Fotografien von Thomas Dix, die einen gelungenen Eindruck des Bauwerks vermitteln.

Somit gehört der Adinath-Tempel von Ranakpur zu den herausragendsten Sakralgebäuden hindu- und jainistischer Bautradition Nordindiens. Nach Außen spektakulär bis bizarr durch die zinnenartigen Shikhara, überwältigt er den eintretenden Besucher im Innern durch ein flirrendes Labyrinth offener Höfe und zahlreicher Kuppeln, die von einem Wald reliefierter Marmorsäulen getragen werden. Die offene Struktur, der weiße Marmor und das sich auf dem überbordenden Dekors der gravierten Säulen und Kuppeln vollziehende Schattenspiel verursacht eine überwältigende Lichtstimmung, die einzigartig ist und sich deutlich unterscheidet von den sonst eher dunklen Innenräumen nordindischer Sakralbauten.

Grundriss und Geometrie

Neben seiner Größe unterscheidet sich der Bau in der stärkeren Betonung geometrischer Formen von der herkömmlichen nordindischen Tempelarchitektur, wie sich im Tempelbezirk sinnfällig anhand der drei benachbarten kleineren Tempelbauten – dem Parshvanatha-, Neminatha- und Surya-Naryana-Tempel – beobachten lässt, die dem gewöhnlichen nordindischen Schema verpflichtet sind. Der Adinath-Tempel hebt sich sowohl in der Form wie auch in seinen Ausmaßen deutlich ab. Im Grundriss, der die enorme Fläche von 3716 Quadratmetern umfasst, dominieren Quadrat, Kreuz und Kreis. Somit gehen geometrische Formen hier eine Synthese ein mit der eher amorphen Gestalt der Shikharas, die für dieses Bauwerk in seiner äußeren Gestalt prägend bleiben, gemäß der Bautradition der nordindischen Jain- und Hindutempel.

Abb. 2 Parshvanatha-Tempel in Ranakpur

Ein Grund ist die Chaumukha-Konzeption des zentralen Adinaths-Heiligtums, also die viergesichtige Gestaltung der Adinath-Statue im Heiligtum. Diese setzt sich architektonisch fort, indem zu allen vier Seiten des fast mittig platzierten Heiligtums jeweils drei Mandapas, also Vorhallen, vorgelagert sind, die auf Eingänge und Treppen zulaufen, die sich alle genau in der Achse der viergesichtigen Adinath-Statue befinden. Indem das zentrale Heiligtum sich zu vier Seiten, die exakt den vier Himmelsrichtungen entsprechen, öffnet, erhält der Tempel einen nahezu quadratischen Grundriss von 60 mal 62 Metern. Entlang des Achsenkreuzes und eines dieses durchschneidenden Quadrats liegen die Mandapas, die von runden prächtig ornamentierten Kuppeln überwölbt sind.

Abb. 3 Grundriss. Die westlich von der Cella (Garbhagriha), also in der Achse zum Haupteingang liegende Vorhalle (Mandapa) ist etwas größer, darum ist die Cella mit dem Adinath-Kultbild ein wenig von der Mitte nach Osten verschoben. Abbildung aus: Jainism And The Temples Of Mount Abu And Ranakpur. Neu Delhi 1998.
Abb. 4 Südseite der Garbhagriha mit Adinath-Statue. Dieser Anblick des Zentralheiligtums bietet sich von allen vier Himmelsrichtungen. Foto © by Thomas Dix.

Säule und Kuppel

Tatsächlich wird der Besucher beim Durchstreifen des Tempelinnern dieser geometrischen Muster überhaupt nicht gewahr, sondern verliert sich vollkommen im ebenso überbordenden wie unübersichtlichen Prunk der dekorierten Säulen, Kapitelle und Kuppeln aus beige-weißem Marmor. Die Säulen überführen zu neuen Geschossen, die nicht etwa begehbar sind, sondern ihrerseits weiter zu den Kuppeln führen, die das Heiligtum umgeben, zu beiden Seiten getrennt von einem schmalen Lichthof, dessen äußerer schließlich von der Umfriedungsmauer eingeschlossen wird, in deren Nischen die übrigen Tirthankara eingestellt sind. In diesem Labyrinth aus 1444 Säulen, von denen keine der anderen hinsichtlich des Dekors gleicht, wandelt der Besucher mal drinnen, mal draußen, verzaubert von der besonderen Lichtstimmung, die durch die offene Konstruktion überkuppelter Säulenhallen bewirkt wird.

Die Säulen als die tragenden Elemente dieser Konstruktion sind zugleich die Träger von Schmuck und damit der religiös-symbolischen Bedeutung des Tempels, die sich hier in einem ästhetischen Überwältigungsakt entfaltet: Der Adinath-Tempel von Ranakpur gehört zum Besten, was an Steinmetzarbeit, Ornamentik und Relief in der Kunstgeschichte geschaffen wurde. Ein endloser, wunderschön angeordneter Säulenwald aus Gravuren, Marmorschnitzereien, abstrakten und figurativen Reliefs. Das Auge kann sich nicht sattsehen, eine nicht endende Fantasie der harmonischen Formenvielfalt, egal wohin der Blick sich richtet. Ein Traum aus elfenbeinfarbenem Marmor.

Abb. 5 Südansicht des westlichen Vorhalle (Meghanada-Mandapa). Foto © by Thomas Dix.

Der geschaffene Raum dient dazu, das Ornament zur vollsten Entfaltung zu bringen. Das zur Bildung des Raumes ausgewählte Material, der beigeweiße Marmor aus den 30 Kilometer entfernten Arasoori-Steinbrüchen, lässt wegen seiner Helligkeit filigrane Reliefstrukturen bestens zur Geltung kommen. Die offene Struktur des Raumes sorgt dafür, dass diese sich im besten Licht entfalten können. Anstelle geschlossener Wand- und Deckenformationen durchwandert der Betrachter einen Wald aus Säulen, mal in offenen Lichthöfen, mal überwölbt von dekorierten Kuppeln, die keinen geschlossenen Tambour haben, sondern in der Pendentifzone ebenfalls immer wieder Licht zwischen den kuppeltragenden Säulen einfallen lassen.

Abb. 6 Zwischengeschosse und die transparente Pedentifzone unter den Kuppeln gewährleisten den sanften Lichteinfall, der die besondere mystische Lichtatmosphäre bewirkt. Foto © by Thomas Dix.

Die beiden für die Statik des Gebäudes wesentlichen Bauelemente – Säule und Kuppel – sind zugleich die wesentlichen Träger von Ornament, was somit die komplette Durchdringung von zweckhaften und artifiziellen Architekturelementen, also die gelungene Synthese von Form und Inhalt bedeutet. Zugleich verweist die Offenheit bei diesem raffinierten Grundriss auf das Basale der schlichten Urform der Hindu- und Jaintempel: Nämlich darauf, dass sie in einem warmen Land stehen, wo die Gläubigen sich draußen versammeln können.

Keine der 1444 Säulen gleicht der anderen. Gleichwohl gibt es ein Säulenschema, das nach Stützfunktion und damit verbundener inhaltlich-symbolischer Bedeutung der Säule variiert. Am prachtvollsten sind die Säulen, welche die Meghanada-Mandapa bilden, in deren Zentrum die Skulpur von Marudevi, Adinaths Mutter auf einem Elefanten reitend, steht.

Abb. 7 Die Statue des Elefanten, der Adinaths Mutter Marudevi trägt, befindet sich auf einer Achse von Haupteingang und Garbhagriha. Foto © by Thomas Dix.

Die Mandapa liegt in der vom zentralen Heiligtum auf den Haupteingang zulaufenden Westachse und trägt eine höhere Kuppel. Ihre Säulen sind besonders reich verziert und zusätzlich zu den abstrakten Gravuren auch mit figurativen Reliefs versehen: Nach mehrfach getrepptem Sockel folgt auf ca. 70 cm Höhe ein vegetabiler Fries mit zum Schutz dienenden dämonischen Fratzen, gebildet aus Löwen und Kobras. Darüber ein Tierfries: Pfaue, Löwen oder Elefanten. Darüber ein Menschenfries: Krieger, Musikanten, Liebende, Kämpfende. Darüber vier Reliefs, zu jeder Himmelsrichtung eine meditierende Göttin. Darüber ca. 50 cm große Reliefs von Göttern und Legendenfiguren, abwechselnd Männer und Frauen. Darüber ein Fries von Tanzenden, Nach abstrakten Mustern wieder der Dämonenfries. Dann ein kreuzförmig in alle vier Himmelsrichtungen auskragendes Kapitell. Doch diese besonders stark verzierten Säulen tragen über dem Kapitell noch kein neues Geschoss wie es die weniger stark verzierten Säulen tun. Über dem Kapitell nochmal eine Reliefgruppe von ca. 50 cm Höhe, aber jeweils nur vier Figuren, zu jeder Himmelsrichtung angeordnet. In dieser Zone keine Frauen, nur Götter und Tirthankara. Darüber ein Blätterfries, dann ein vierfach auskragendes Kapitell. Darüber wieder Rankenmuster, dann ein weiteres Kapitell und dieses trägt das nächste Geschoss. Hier eine offene Galerie, die mit kurzen Säulen oktogonal zur runden Kuppel vermittelt.

Abb. 8 Die Säulen der westlichen Meghanada-Mandapa sind die prachtvollsten des Tempels. Foto © by Thomas Dix.

Acht Säulen tragen so die Schubkraft der Kuppel. Vier weitere tragen ebenfalls und überformen den oktogonalen Grundriss hier zu einem Quadrat. Diese zwölf Säulen sind also besonders reich verziert und tragen figurative Reliefs von Tieren, Menschen, Göttern und Tirthankaras.

Abb. 9 Kuppel der westlichen Meghanada-Mandapa. Foto © by Thomas Dix.

Dieses Schema wiederholt sich so im gesamten Tempel mit kleinen Variationen. Jedoch wird bei den anderen Säulen in der unteren Ebene auf figurative Reliefs verzichtet. Figurative Darstellungen finden sich vorwiegend bei den kuppeltragenden Schmucksäulen, hier dominieren Götter und Tirthankaras und zwar in der oberen Zone, wo bereits der Geschossdurchbruch stattfindet. In der Kuppel dann wieder zahlreiche Friese und Reliefs von weiblichen Figuren. Diese, wie bei indischen Tempelreliefs üblich, mit ausgeprägter, fast übertreibender Akzentuierung der geschlechtlichen Merkmale, so dass eine permanente erotisch-aphrodisierende Anmutung in den ästhetischen Gesamteindruck miteinfließt in bewusstem Kontrast zur entkörperlichten Askese der Tirthankara-Darstellungen.

Abb. 10 Tänzerinnen in der Kuppel der westlichen Meghanada-Mandapa in für indische Tempel üblicher erotisch anmutender Charakterisierung. Foto © by Thomas Dix.
Abb. 11 Die schematisierte Darstellung der Tirthankara in Meditationspose als Sinnbild weltabgewandter Askese: Verkörperung der Entkörperlichung. Foto © by Thomas Dix.

Fassade und Dachlandschaft

Der überbordende Dekor im Innern entfacht einen Sinnentaumel ästhetischer Überwältigung. Außen hingegen führen ähnliche Ursachen zu einem insgesamt nachteiligen Effekt: Hier vereiteln die zahlreichen Details einen homogenen Gesamteindruck. Der Adinath-Tempel ist auf einem Sockel errichtet, der den Zweck hat, das Gefälle des unebenen Baugrunds in der hügeligen Landschaft auszugleichen. Anstatt den Baugrund zu planieren, soll das Gebäude sich der Hügellandschaft anpassen, was dazu führt, dass die Sockelzone verschieden hoch ist. Ausgerechnet in der Frontalansicht ist der Sockel am größten. Fast zwei Geschosse scheint er zu umfassen und prägt somit die Fassade nachhaltig. Da es sich aber nur um eine Verlegenheitslösung zur Ausgleichung des unebenen Baugrundes handelt, hat man anscheinend vergessen, ihn in die Wirkung des Gebäudes mit einzubeziehen. Er ist fast gar nicht gegliedert, verfügt über keinerlei Ornament und wirkt in seiner Massigkeit langweilig und ungefüge.

Abb. 12 Fassade des Adinath-Tempels von Ranakpur.

Dessen Massigkeit wird noch mehr betont durch die unmittelbar über ihm einsetzende verspielte Filigranität der zahlreichen Shikhara. Durch diese unmittelbare Gegensätzlichkeit wirkt der Sockel umso schlichter und banaler und die Shikhara umso verwirrender und den Blick zerstreuend, anstatt bündelnd. Die übertrieben wirkende Zahl der Shikhara am Gesims ist der Verehrung der nach innen in die umfriedende Wand eingestellten Tirthankara geschuldet. Jeder wird ihm gebührend von einem Shikhara überwölbt, was bei der großen Anzahl von 24 Tirthankaras zu einer endlosen Reihung von Shikharas führt, die den Eindruck der Fassade bestimmen.

Dies stellt über ihre bloße Gegensätzlichkeit zur eintönig schmucklosen Sockelzone ein weiteres Problem dar. Die 24 Shikara ragen wie übergroße Zinnen am Gesims hoch und verstellen so dem Betrachter den Blick auf die Kuppeln. Deren gestufte und symmetrische Anordnung rund um den zentralen Shikara über dem Adinath-Heiligtum im Zentrum des Tempels bildet eine wohlproportionierte und schön geordnete Dachlandschaft, die man wegen der Shikharareihe am Gesims aber nicht sehen kann. Die Vielzahl an Shikharas vermag es nicht, den Blick zu halten und zu führen, stattdessen verliert sich der Betrachter in Verwirrung. Somit bietet das Gebäude keinen geschlossenen, homogenen Gesamteindruck, weil eben der Hauptshikhara und die Kuppeln zu den Gesimsshikharas in keinem wohlproportionierten Verhältnis stehen. Entweder müssten die Kuppeln und der Hauptshikhara größer oder die Gesimsshikharas kleiner sein. Offenbar haben die Baumeister in ihrer Fixierung auf die religiöse Symbolik den architektonischen Gesamteindruck aus den Augen verloren.

Die Dachlandschaft ist zergliedert in viele einzelne Kuppeln und Shikharas. Der große Shikhara über dem Zentralheiligtum vermag die Aufmerksamkeit nicht zu bündeln. Foto © by Thomas Dix.

Insofern der Tempel ganz aus weißem Marmor geschaffen ist, drängt sich natürlich der Vergleich mit dem 200 Jahre später entstandenen Taj Mahal auf. Und diesen Vergleich verliert der Adinath geweihte Tempel, trotz all seiner ornamentalen Pracht. Die Voraussetzungen sind ähnlich und zugleich grundverschieden. Den Baumeistern stand jeweils eine unberührte Fläche zur Verfügung. Beim Taj Mahal eine weite Ebene, bei dem Jain Tempel eine subtropisch bewaldete Hügellandschaft. Auch die Erbauer des Taj Mahal setzten die Gebäude auf einen Sockel, damit die Silhouette sich nur gegen den Himmel abzeichnet und nicht gegen Bäume oder andere Gebäude. Dieser Sockel ist nicht Teil der Gebäude, sondern einfach nur eine leicht erhöhte Bauebene; der Betrachter bemerkt ihn gar nicht, ähnlich wie beim mutmaßlichen Vorbild des Taj Mahals, dem Humayun-Mausoleum in Delhi.

Abb. 13 Taj Mahal. Der Sockel steht in einem harmonischen Verhältnis zum Gesamtgebäude, welches wiederum von Zentralkuppel dominiert wird.
Abb. 14 Auch das Humayun-Mausoleum steht auf einem niedrigen Sockel. Die Unterordnung des Gebäudes unter die Zentralkuppel ist noch nicht so konsequent durchgeführt wie beim Taj Mahal.

Neben der gelungenen Sockellösung macht sich bei den beiden muslimischen Mausoleen die optische Fokussierung des Gesamteindrucks auf die alles beherrschende Zentralkuppel bemerkbar. Die gleiche Funktion käme beim Adinath-Tempel dem Shikhara über dem Zentralheiligtum zu. Doch dieser ist zu klein.

Vermutlich macht sich hier die nordindische Sakralbautradition bemerkbar, die viel weniger darauf abzielt, Gebäude bzw. Häuser im eigentlichen Sinne zu bauen als dies beispielsweise bei den muslimischen Eroberern der Fall war. In der Tat ist eigentlich jeder hinduistische oder jainistische Tempel kein Gebäude im eigentlichen Sinne, sondern eine begehbare Skulptur. Und diese ist ganz und gar der Symbolik verpflichtet und nicht den Anforderungen eines architektonischen Gebildes, das immer auch auf Zweckmäßigkeit ausgerichtet ist. Der Adinath-Tempel macht den Versuch, die indische Tradition eines offenen begehbaren Tempelbezirks zu bewahren und diesen zugleich in eine Gebäudeformation zu überführen. Möglicherweise sind hier auch Einflüsse der muslimischen Okkupanten aufgenommen worden, was aber gleichwohl nicht zu einer rundum gelungenen Lösung führte.

So bizarr der Tempel von außen wirkt, so überwältigend ist er in seiner prachtvollen Schönheit von innen. Neben dem in detailversessener Präzision überwältigenden Ornament ist es die offene Struktur, die seine überragende Wirkung gewährleistet. Die Mischung aus offenem und geschlossenem Gebäude macht den spezifischen Charakter aus. Sie wird gewährleistet durch den Säulenwald, anstelle geschlossener Wandformationen. Und die Säulen sind es wiederum, die als wichtigster Träger von Ornament im Tempel jenen anderen, Schönheit verbürgenden Aspekt garantieren: Das Relief.

Literaturverzeichnis

Kumar , Sehdev: Jain Temples of Rajasthan. Architecture and Iconography. Abhinav Publications, New Delhi 2001.
Clermont, Lothar und Dix, Thomas: Jainism And The Temples Of Mount Abu And Ranakpur. Neu Delhi 1998.
Ghosh, A.: Jaina Art and Architecture (3 Bde.), New Delhi 1975.
Doshi, Saryu: Dharna Vihara,Ranakpur, Stuttgart 1995.
Sorrel, Annie: Rajasthan. Des Citadelles du Desert a la Douceur du Mewar, Geneve 1986.
Volwahsen, A. und Stierlin, H.: Indien. Architektur der Welt Bd. 9, Lausanne o.J.
Zimmer, Heinrich: The Art of Indian Asia (2 Bde.), Princeton 1955.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Der Adinath-Tempel Gesamtansicht. Foto © by Thomas Dix.
Abb. 2: Parshvanatha-Tempel in Ranakpur.
Abb. 3: Grundriss. Abbildung aus: Jainism And The Temples Of Mount Abu And Ranakpur. Neu Delhi 1998.
Abb. 4: Südseite der Garbhagriha mit Adinath-Statue. Foto © by Thomas Dix.
Abb. 5: Südansicht des westlichen Vorhalle (Meghanada-Mandapa). Foto © by Thomas Dix.
Abb. 6: Südansicht des westlichen Vorhalle (Meghanada-Mandapa), Detail. Foto © by Thomas Dix.
Abb. 7: Die Statue des Elefanten mit Adinaths Mutter Marudevi. Foto © by Thomas Dix.
Abb. 8: Säulen der westlichen Meghanada-Mandapa. Foto © by Thomas Dix.
Abb. 9: Kuppel der westlichen Meghanada-Mandapa. Foto © by Thomas Dix.
Abb. 10: Tänzerinnen in der Kuppel der westlichen Meghanada-Mandapa. Foto © by Thomas Dix.
Abb. 11: Südseite der Garbhagriha mit Adinath-Statue, Detail. Foto © by Thomas Dix.
Abb. 12: Fassade des Adinath-Tempels von Ranakpur.
Abb. 13: Taj Mahal, Agra, Uttar Pradesh.
Abb. 14: Humayun Mausoleum, Neu-Delhi.

  1. Vgl. "Die nordindische Sakralarchitektur im interkulurellen Vergleich" auf dieser Plattform.

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