Das Sublime im Alltäglichen oder Die Nobilitierung der Bourgeoisie bei Vermeer
An Vermeer ist alles klein. Ein kleines Oeuvre, kleinformatige Bilder von kleinen Leuten in kleinen Räumen, die nicht in Palästen, sondern in kleinen Häusern liegen. Umso erstaunlicher ist die große Wirkung, die er beim heutigen Betrachter damit erzielt. Die Ursachen wollen wir im Folgenden versuchen zu erörtern. Worin gründet sich der Zauber Vermeers, der ihn zu einem der beliebtesten Alten Meister gemacht hat, dessen Ausstellungen regelmäßig Scharen von Besuchern anlocken?
Komposition und Lichtführung
Vermeers thematische Variationsbreite ist ausgesprochen dünn. Nach den Anfängen als Historienmaler wendet er sich der Genremalerei zu. Selten sind mehr als zwei Figuren zu sehen, zumeist nur eine. Manchmal im Wirtshaus, zumeist aber in der heimischen Stube. Die Bilder ähneln sich inhaltlich und kompositorisch. Schließlich hat er seine Bildformel gefunden und arbeitet sich daran ab: Eine stehende, zumeist weibliche Figur in einem bürgerlichen Innenraum dem Fenster am linken Bildrand zugewandt, durch das sanftes Licht in den Raum und auf die Figur fällt. Weil meist nur ein oder zwei Figuren zu sehen sind, bevorzugt Vermeer das Hochformat. Die Figuren verharren, ihre Gebärden verraten keine oder nur eine leichte Bewegung, somit wirken sie in sich gekehrt und still. Im Grunde malt Vermeer immer das gleiche Bild. Seine wiederholten Inhalte, seine redundanten Kompositionen lassen erahnen, was es mit dieser ewigen Wiederkunft des Gleichen auf sich hatte: Vermeer strebte nach Perfektion. Und genau dies bewundern wir bis heute in seinen Bildern: Die Vollkommenheit in der Stille des Augenblicks.
Herausragende Bedeutung für die Wirkung seiner Bilder hat die Lichtkomposition. In seiner Sensibilität für die mittels Lichtverteilung erzielte Wirkung in einem Gemälde mag sich das Erbe seiner früheren Orientierung an den Utrechter Caravaggisten niederschlagen. Auch wenn er im weiteren Verlauf seiner Karriere gänzlich andere Lösungen wählt, so hat er mit den Caravaggisten deren Konzentration auf Lichteffekte gemeinsam. Vermeer inszeniert das Licht in seinen Bildern auf die immer gleiche Weise: Mildes Tageslicht fällt vom linken Bildrand her auf Figur und Interieur. Vermeer macht das Licht sichtbar durch die Schattenverteilung vor allem an der Fensterwand und der links von der Fensterwand rechtwinklig abgehenden Rückwand, welche den Bildhintergrund gibt. Ein sanfter Schattenverlauf von Dunkel zu immer heller an der Rückwand bildet die Lichtverteilung im Raum ab. Davor platziert Vermeer Lichtreflexe am deutlichsten auf der dem Fenster zugewandten Seite der Figur sowie auf Vorhängen, Teppichen, Metallgegenständen und bevorzugt punktuell an den Fensterahmen oder den Messingknöpfen der Sessel. Weder die Herkunft des Lichts noch das, was es bescheint, ist hinsichtlich seiner Bedeutung mit eindeutig identifizierbarer Symbolik aufgeladen. Das Licht, das auf die Figuren in ihren Bürgerstuben durch das Fenster fällt, ist kein überirdisches Licht. Vermeer malt keine Wunder, sondern Alltägliches, fast Banales. Aber durch die sensible Lichtströmung erhalten sowohl die Figuren als auch die Momente, in denen sie dargestellt werden, etwas Weihevolles. Das Normale, Alltägliche: das Profane wird geheiligt. Von daher wirken Vermeers Gemälde fast wie Andachtsbilder.
Innerlichkeit
Nahezu alle Betrachter heben die Atmosphäre der Stille hervor, die die Bilder vermitteln. Die Bilder wirken gedanken- und gemütvoll. Ob der tiefere Sinn, den wir in den Bildern gerne vermuten, mit Vermeers bewusster Intention korreliert, ist spekulativ. Bei einigen Gemälden lässt sich der Symbolgehalt recht gut entschlüsseln; dort hat man es mit recht biederen Moralstücken zu tun. Wie man inzwischen durch freigelegte Übermalungen weiß, hat er einigen seiner Bilder einen bisweilen wenig subtil anmutenden Symbolgehalt unterlegt, indem die Frauengestalt im Mittelgrund auf ein an der Wand hängendes Armorgemälde bezogen ist, was deren unkeusche Gedanken versinnbildlicht.
Ein Armorgemälde im Hintergrund findet sich bei diversen Gemälden Vermeers: Schlafendes Mädchen (1656/57), Die unterbrochene Musikstunde (1658/59), Junge Dame am Virginal stehend (1670-72). Jedes Mal dürfte der Cupido auf dem Gemälde im Hintergrund auf die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren im Vordergrund bezogen sein und somit deren amouröse Fixierung ausdrücken. In der Perlenwägerin (1664) ist im Mittelgrund eine schwangere Frau beim Abwiegen von Schmuck oder Geld zu sehen, während hinter ihr ein Gemälde mit einer Darstellung des Jüngsten Gerichts das Abwiegen der Seelen zeigt.
So einfach diese Symbolbeziehungen in Vermeers Bildern wirken, stellen sie eine gesteigerte Subtilität zu den sonstigen Genreszenen niederländischer Maler dar. Vermeer bringt so unmissverständlich zum Ausdruck, dass er nicht einfach nur die pittoreske Beschaulichkeit des häuslichen Alltags darstellen will, sondern dass er Anspruch erhebt auf Hintergründigkeit, auf Sinn und Bedeutung. Und hier offenbart sich seine besondere Stellung innerhalb der niederländischen Genremalerei: Seine bürgerlichen Figuren wirken überaus bedeutend. Und diese Aura des Bedeutenden sowohl der Figuren wie auch der sie enthaltenden Gemälde ist ein wesentliches Charakteristikum von Vermeers Malerei.
Welchen Sinn auch immer Vermeer seinen Bildern und den darin enthaltenen Figuren zugedacht hat, entscheidend für deren Wirkung ist, dass sie überhaupt nach einem Sinn trachten. Es sind vielfach Menschen in nachdenklicher Haltung, also Menschen, die versuchen, etwas zu verstehen. Und diese Versunkenheit in Gedanken und Gemüt ist das zentrale Handlungsmotiv, das auf den Bildern auszumachen ist. Auf Vermeers Gemälden gibt es keine ausladenden Gesten, kaum laute zwischenmenschliche Interaktion, oft befinden sich nur zwei Personen im Bild, meistens nur eine. Die Handlung, soweit sie sich überhaupt ausmachen lässt, vollzieht sich im Inneren. Es sind Bilder der Stille und der Kontemplation.
Vermeer überführt die Tätigkeit der Figuren in den Genrebildern ins Intelligible und damit die äußere Handlung in innere Handlung. In seinen früheren Genrebildern sieht man die Figuren noch bei körperlicher Tätigkeit oder beim Trinken und Buhlen. Sie tun dies zwar mit verhaltenem Temperament, aber es handelt sich noch um körperliche Tätigkeiten.
In den meisten seiner späteren Genreszenen ist die körperliche Tätigkeit und somit die äußere Handlung auf ein Minimum reduziert. Bevorzugt lässt er die Figuren lesen, musizieren, betrachten oder „sinnen“. Die Figuren werden also beim Denken und Fühlen gezeigt. Vermeer macht so die Gedanken und Gefühle seiner Figuren spürbar. Solcherart erhalten die Bilder jenen kontemplativen Charakter, eben die für Vermeer typische Stille und Würde. Dies überträgt sich auf den Betrachter, der in diesen Darstellungen sinnender Menschen seinerseits gedankliche Tiefe und emotionale Sensibilität wahrnimmt.
Genremalerei
Der weihevolle Charakter gepaart mit der Innerlichkeit ist das Element, das ihn von den übrigen Genremalern unterscheidet. Deren Inhalte ähneln jenen von Vermeer vielfach, doch haben ihre Gemälde überwiegend den Zweck, das alltägliche bürgerliche Leben in beschaulichen oder humoristischen Szenen pittoresk abzubilden. Der Sinn dieser Bilder erschließt sich vielfach auf den ersten Blick und erschöpft sich im Dekorativen. Zuweilen sind auch Sinnstücke zu finden und die dargestellten alltäglichen Szenen beinhalten eine moralische Belehrung, was sie hintergründiger macht. Dennoch bleiben sie in ihrer Wirkung hinter Vermeer zurück.
Ein kurzer vergleichender Blick auf die – neben Vermeer – berühmtesten holländischen Genremaler offenbart schnell die Unterschiede: Auf Pieter de Hoochs Bildern sind in der Regel mehrere Figuren dargestellt, miteinander redend, oftmals in der Bewegung. Vielfach sind Kinder zu sehen, manchmal Hunde. Beides läuft einer Atmosphäre der Stille und Introspektion, wie sie für Vermeer typisch ist, zuwider. Zudem wählt Pieter de Hooch in der Regel einen weiteren Bildausschnitt, in dem die Figuren dann in größerer Distanz wahrgenommen werden. Er kommt den Figuren auf seinen Bildern, er kommt den von ihm geschaffenen Menschen nicht nahe. Er erzeugt somit nicht diese Atmosphäre der Intimität, wie wir sie bei Vermeer bewundern. 2
Auch Gerard ter Borch zeigt auf seinen Bildern die Menschen zumeist in größerer und damit lauterer Interaktion. Vielfach bildet er Menschen mit einer profanen Tätigkeit beschäftigt ab und gelangt somit nur selten zu jener Atmosphäre der Nachdenklichkeit, die durch die Enthaltung jeglicher Handlung oder durch die Schilderung intelligibler Tätigkeiten erlangt wird. Zwar vermitteln seine Lesenden und Schreibenden eine gesteigerte Introspektion und Intimität, aber in ihren dunklen Kammern fehlt ihnen jene behutsame subtile Überhöhung, die Vermeer seinen Figuren durch die weihevolle Lichtführung verleiht.
Das Gefühlvolle bei Vermeer übersteigt die beschauliche Gemütlichkeit, jene biedermeierhaft-pittoreske Niedlichkeit der Genremalerei und fügt ihr so eine transzendente Note zu. Tatsächlich gibt es Hinweise, dass Vermeer sich nicht nur in der Allegorie des Glaubens und den christlichen Historienbildern mit transzendentalen Themen befasst habe. Verschiedene Kunsthistoriker haben den Versuch unternommen, in einigen seiner Gemälde einen religiösen Hintersinn zu dechiffrieren. Und hier kommen wir zu einem entscheidenden Charakteristikum von Vermeers Gemälden: Nämlich, dass diese Bilder fast durchweg zur Deutung auffordern.
Und genau das ist beabsichtigt. Vermeer setzt in der Genremalerei Komposition und Farbgebung mit der gleichen Intention ein, wie die Historienmalerei: Nämlich um vollkommene Schönheit und Bedeutungstiefe zu erreichen. Hierin unterscheidet er sich von den anderen niederländischen Genremalern, die in ihren Gemälden auf etwas Niedlich-Volkstümliches abzielen. Ihre geschilderten Begebenheiten haben bisweilen eine derbe oder humoristische Note, ihre Figuren bisweilen eine Neigung zur Karikatur. Genau dies ist in ihren Genreszenen, die sich vor dem Hintergrund niederländischer Traditionen seit Bruegel entwickelt haben, auch beabsichtigt: Sie wollen Alltäglichkeit. Vermeer hingegen will Erhabenheit – das Erhabene, das Sublime in der Stille des Alltäglichen abzubilden, ist die Formel, die Vermeers Malerei auf den Begriff bringt. Er inszeniert einen einfachen Moment, eine vergleichsweise banale Begebenheit in perfekt austarierter Harmonie und vollkommener Farbgebung. Er überführt das Sujet der Genremalerei – die pittoreske Abbildung des Alltäglichen – in den Anspruch der Historienmalerei. Seine Innenraumszenen haben das gleiche Pathos wie mythologische oder religiöse Darstellungen. Die bürgerlichen Frauen in ihren bürgerlichen Interieurs haben die gleiche Grandezza wie eine Madonna.
Individualität
Die „sinnenden“ Menschen auf Vermeers Bildern lassen Nähe zu. Wenden sie ihren Blick in Richtung des Betrachters, so ist es kein gebietendes oder aufgesetztes Minenspiel. Zumeist aber bemerken sie den Betrachter nicht. Dieser kann wie auf Zehenspitzen an sie herantreten und sie in einem Moment der Versunkenheit erfassen. Einen Moment, den diese Figuren in amouröser Verbundenheit mit einem anderen teilen oder in der Versunkenheit in den eigenen Gefühlen und Gedanken. Jeden dieser Menschen könnte man mal getroffen haben, fast könnte man es selber sein, diese Menschen wirken so natürlich, diese Szenen sind so geläufig, dass die Identifikation jedem offenzustehen scheint. Nahezu alle geschilderten Begebenheiten wirken vollkommen natürlich und entbehren jeglicher Künstlichkeit. Da ist keinerlei Pose in der Haltung, keinerlei Außergewöhnlichkeit oder Einzigartigkeit in der geschilderten Begebenheit. Darum wirken alle Szenen absolut glaubwürdig und authentisch und schaffen so eine Nähe von Szene und Figur zum Betrachter, der sich somit Szene und Figur verbunden fühlt. Wegen der Einfachheit und Unmittelbarkeit des Ausdrucks haben diese Figuren, diese Szenen, diese Bilder fast nie etwas formelhaft Kalkuliertes. 3
Diese Natürlichkeit entspringt vermutlich dem Umstand, dass Vermeer zu seinen Bildinhalten in einer persönlichen Beziehung stand. Die Figuren in seinen Bildern werden in ihrer vertrauten Umgebung dargestellt. Diese Vertrautheit gilt auch für den Maler selbst, der vermittelt über seine Bildinhalte sich selbst thematisiert. Vermeer hat sich an seiner unmittelbaren Umgebung orientiert. So wie die Veduten von Delft die Stadt abbilden, in der er gewohnt hat,4 so dürften die Innenräume hinsichtlich ihrer Ausstattung dem entsprechen, was Vermeer in seinem Haus und dem seiner Nachbarn und Freunde gesehen hat. Indem er also das, was er in seiner Umgebung gesehen hat, für bildwürdig befand, kreisen seine Bilder gewissermaßen um seine eigene Person, ohne dass er sich selbst jemals darstellt.
In den meisten seiner späteren Bilder werden Menschen allein mit sich dargestellt. Insofern er diese Menschen beim Nachsinnen, beim Denken und Fühlen abbildet, beginnt der Betrachter sich automatisch für deren Gefühle und Gedanken zu interessieren. Somit wird der einzelne Mensch in Vermeers Bildern interessant. Und genau das ist das Besondere in Vermeers Gemälden. Nicht der der Heilige, der Held, der Fürst, der Krieger, sondern ein ganz normaler Mensch in seiner ganz normalen Umgebung wird auf einmal interessant. Die Figuren auf Vermeers Bildern haben nichts Außergewöhnliches geleistet, sie sind nicht aufgrund erworbener oder angeborener Verdienste für bildwürdig erachtet worden, sondern nur weil sie Mensch sind. Der Betrachter fragt sich: Was geht im Innern des brieflesenden Mädchens am Fenster vor? Was fühlt das Mädchen mit dem Perlenhalsband? Was bewegt die Perlenwägerin? Insofern Menschen in Bildern gemalt werden und sie nicht als Bedeutungsträger in einem bestimmten sozialen Kontext dargestellt werden, werden sie in ihrer Individualität dargestellt. Genau dies geschieht in Vermeers Werken. Er weckt beim Betrachter das Interesse für einen ganz normalen einzelnen Menschen, der nur darum interessant ist, weil er ein Mensch ist: Das Individuum.
Vermeer hat die Individualität in der Malerei nicht erfunden. Beispiele herausragend sensibler malerischer Gestaltung der Individualität findet sich bereits vorher in den Portraits Tizians oder Lorenzo Lottos oder anderer Manieristen. Ebenso in den Portraitdarstellungen barocker Großmeister wie Anthonis von Dyck oder Velázquez. Das Besondere bei Vermeer im Unterschied zu diesen Porträtisten ist, dass es sich hier nicht um Portraits handelt, die hinsichtlich ihrer Gattung dafür prädestiniert sind, Individualität herauszuarbeiten. Vermeer malt und meint also nicht einen bestimmten Menschen, sondern den Menschen als solchen. In diesem Sinne thematisiert er das Individuum, in diesem Sinne thematisiert er Individualität.
Er tut dies, indem er das Interesse für den einzelnen Menschen weckt, für dessen Gedanken- und Gefühlswelt. Die Figuren in seinen Bildern sind um ihrer selbst willen interessant. Niemals repräsentieren seine Figuren, sie sind nicht wegen eines bestimmten Gewerbes oder Standes für bildwürdig befunden worden, sondern wegen ihres Innenlebens. Ihre persönlichen Sorgen, Gedanken, Ängste und Sehnsüchte stehen im Vordergrund und nicht ihre soziale Funktion beziehungsweise ihre Insignien als Angehörige einer bestimmten Kaste oder Klasse.
Bürgerlichkeit
Sind seine Figuren deswegen klassenlos? Natürlich nicht. Nahezu alle Figuren auf seinen Genrebildern gehören dem Bürgertum an, dessen Chronisten die holländischen Genremaler sind. Nicht zufällig ist es die protestantische Handelsmacht der Republik der Vereinigten Niederlande, in der die bürgerliche Ausdrucksform der Genremalerei zur höchsten Blüte gelangt. Hier entfaltet sich ein emsiger Kapitalismus, getragen von einem freien protestantischen Bürgertum, das sich zunehmend seiner eigenen Bedeutung bewusst ist. Der auf Arbeit – auf Fleiß und Bildung – basierende Wohlstand, wird als Lohn der Tugend begriffen und zugleich ständig hinterfragt von der typisch protestantischen Introspektion, die den eigenen Gnadenstand als fragwürdig erachtet. Indem die göttliche Gnade nicht durch religiöse Rituale wie Beichte und Ablass gesichert werden kann, wird die protestantische Seele in fortwährende Unsicherheit gestürzt, die der Einzelne mit sich ausmachen muss, was die Entstehung einer individuellen Denkungs- und Gemütsart fördert, die wir auf Vermeers Bildern wahrnehmen können.
Es ist dabei unerheblich, ob Vermeer selbst zum Katholizismus konvertiert ist oder nicht. Entscheidend ist das Milieu, in dem er sich bewegt hat. Und dieses Milieu ist eines, in dem die Entwicklung des Bürgertums und damit des Subjektivismus weiter fortgeschritten war als in anderen Teilen Europas. Und indem Vermeer dem Subjekt, dem Individuum seine Gemälde widmet, gibt er sich als Exponent des Bürgertums zu erkennen. Während in der Aristokratie das (Adels-)Geschlecht als das Edle, um seiner selbst willen Bewahrens- und Überliefernswerte – und somit in der Kunst als das Darstellungswürdige – empfunden wird, wird dieses in der Bourgeoisie von der Individualität abgelöst. Das Ich erhält einen Wert als solchen. Vermeers ausgeprägtes Interesse für das Ego seiner Figuren ist in dieser Hinsicht etwas zutiefst Bürgerliches.
Noch deutlicher als der individuelle Charakter seiner Figuren erzählen deren Kleidung und die Interieurs der Räume von Vermeers Verhaftung in seiner Klasse. Durchgängiges Bildthema sind Innenräume von Bürgerhäusern. Es sind keine Paläste, keine verzauberten Traumgebilde, in denen seine Figuren stehen, sondern Bürgerhäuser – nicht ärmlich, aber auch nicht prunkvoll. Es werden also Bürger, genau genommen Kleinbürger, keine Patrizier, dargestellt. Viele der dargestellten Figuren lassen sich als durchaus wohlhabend, aber keineswegs als reich einordnen. Das nach Aristokratisierung strebende Patriziat mit entsprechender Zurschaustellung des erlangten sozialen Status sucht man auf seinen Bildern vergebens. Keine seiner Figuren ist herausragend oder bedeutend; es sind zwar keine armen Leute, aber auch keine reichen oder großartigen Männer oder Frauen, die in den Bürgerkabinetten und Wirtsstuben vor den Fenstern stehen. In diesem Sinne sind es die kleinen Leute, die diese kleinen Bilder bevölkern. Sie werden mit ihren kleinen Sorgen nicht nur für bildwürdig befunden, sondern diese Sorgen und Gedanken erhalten durch die Aura der subtilen künstlerischen Darstellung eine Gravität und existenzielle Bedeutsamkeit, die sie zuvor in der Kunst nicht hatten. Die kleinen Dinge und die kleinen Leute erhalten hier ihre große Würde zugesprochen – die künstlerische Nobilitierung der Bourgeoisie.
Die zeitgenössische Rezeption Vermeers dürfte ebenfalls eine bürgerliche gewesen sein. Die kleinformatigen Gemälde sind wohl für Bürgerkabinette und weniger für ausladende Palastsäle gemalt worden. Sein wichtigster Gönner Pieter van Ruijven war Sohn eines Brauers, dessen Tochter einen Buchbinder heiratete. Durchaus wohnhabend aber eben ein Bürger, kein Aristokrat. Nach Vermeers Tod kaufte der Haarlemer Kaufmann Jan Colombier 26 Gemälde. Zwei weitere ersteht der Delfter Bäckermeister Hendrick van Buyten. Wie angesichts seines Sujets ohnehin zu erwarten, entstammen Vermeers Kunden und Mäzene dem Bürgertum. 5
Das bourgeoise Element in Vermeers Malerei bleibt auch für die weitere Rezeption und seinen Nachruhm bestimmend. Auf Vermeers Bildern sieht man Bürger. Die Menschen in ihren sauberen Stuben leben in einem soliden materiellen Wohlstand, keiner von ihnen hungert oder friert. Allenfalls dezente seelische Nöte klingen an. Die Figuren auf Vermeers Gemälden sind keine Helden und Heilige, sondern ganz normale Menschen. Diese ganz normalen Menschen finden sich in fast allen seinen Bildern in fast immer gleicher Weise. Die formale Redundanz in Vermeers Kompositionen bei gleichzeitigem Interesse für die Individualität der Dargestellten beinhaltet ein bourgeoises Element: Die Figuren in Vermeers Bildern sind alle gleich, aber jede für sich interessant, jede etwas Besonderes. Man sieht: Diese Menschen auf Vermeers Bildern, die keine großen Taten vollbringen, aber dennoch vom Maler für wichtig und bedeutend erachtet werden, sind nicht allzu verschieden von uns. In den Bildern dieses malenden Chronisten des holländischen Frühbürgertums kann sich das moderne Kleinbürgertum wiederfinden, zu dessen wesentlichen psychologischen Merkmalen es gehört, selbst ein normiertes Dasein jenseits tragischer Größe zu führen und dennoch dem eigenen Befinden allerhöchste Bedeutung beizumessen. Hierin liegen die Gründe für die Renaissance Vermeers. Dessen Wiederentdeckung fällt nicht zufällig in das späte 19. und vor allem ins 20. Jahrhundert, also in die postaristokratische Epoche, in der das Bürgertum die politische Macht errungen hat und die hinreichende Durchdringung der Gesellschaft mit seinen geschmacklichen Ansprüchen durchgesetzt hatte. In der Moderne, die politisch und sozial wesentlich vom Kleinbürgertum definiert wird, ist die Wiederentdeckung Vermeers nur folgerichtig.
Literaturverzeichnis
Düchting, Hajo: Jan Vermeer van Delft Im Spiegel seiner Zeit. 2020.
Grijzenhout, Frans: Vermeer’s Little Street. 2017
Koja, Stephan; Neidhardt, Ute; Wheelock Jr., Arthur K: Johannes Vermeer. Vom Innehalten. Dresden 2021
Montias, John Michael: Vermeer’s Clients and Patrons. The Art Bulletin 69, 68-67, März 1987
Montias, John Michael: Vermeer and his milieu. A web of social history. 1989
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-1659, Jan Vermeer, Staatliche Kunstsammlung Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister.
Abb. 2 Die Perlenwägerin oder Frau mit Waage, um 1664, Jan Vermeer, Washington, National Gallery of Art, Widener Collection.
Abb. 3 Bei der Kupplerin, 1656, Jan Vermeer, Staatliche Kunstsammlung Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister.
Abb. 4 Die unterbrochene Musikstunde, 1658/59, Jan Vermeer, The Frick Collection, New York.
Abb. 5 Das Mädchen mit dem Weinglas, 1658/59, Jan Vermeer, Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig.
Abb. 6 Dienstmagd mit Milchkrug, 1658-60, Jan Vermeer, Rijksmuseum, Amsterdam.
Abb. 7 Briefleserin in Blau, 1663, Jan Vermeer, Rijksmuseum, Amsterdam.
Abb. 8 Briefschreiberin in Gelb, 1665-70, Jan Vermeer, National Gallery of Art, Washington D.C.
Abb. 9 Junge Dame mit Perlenhalsband, 1662-65, Jan Vermeer, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Berlin.
Abb. 10 Frau mit zwei Männern beim Trinken und Magd, 1658, Pieter de Hooch, National Gallery, London.
Abb. 11 Die Mutter, 1661-63, Pieter de Hooch, Gemäldegalerie, Berlin.
Abb. 12 Frau mit Kind und Dienstmagd, 1663-65, Pieter de Hooch, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Abb. 13 Frau an einem Spiegel, ca. 1652, Gerard ter Borch, Rijksmuseun, Amsterdam.
Abb. 14 Der Lesende, ca. 1675, Gerard ter Borch, Staatliches Museum, Schwerin.
Abb. 15 Briefschreiberin, ca. 1655, Gerard ter Borch, Kunsthistorisches Museum, Wien.
- Koja, Stephan; Neidhardt, Ute; Wheelock Jr., Arthur K: Johannes Vermeer. Vom Innehalten. Dresden 2021. Insbesondere Gregor J.M. Webers Aufsatz über den Cupido in Vermeers Gemälden, S. 131-164.
- Die Ausnahme bildet natürlich „Die Goldwägerin“ (1659-63) in der Berliner Gemäldegalerie. Der zwischenzeitlich in Delft lebende und mit Vermeer bekannte de Hooch verwendet hier die kompositorischen Mittel, wie sie auch Vermeer regelmäßig angewandt hat, und erzielt den gleichen Effekt: Eine einzelne weibliche Figur in der Halbdistanz im Innenraum dem am linken Bildrand liegenden Fenster zugewandt. Dementsprechend hielt man dieses Gemälde lange für eines von Vermeer.
- Umso erstaunlicher, weil fast alle Gemälde nach der typischen Vermeer-Formel komponiert sind. Die Natürlichkeit in Pose und Ausdruck der Figuren, die Einfachheit im Interieur verleiht den Gesamteindruck der Wahrhaftigkeit. Einzige Ausnahme stellt hier das Bildpaar Der Geograph und Der Astronom dar. Beide Bilder erwecken den Eindruck eines konstruierten Affekts, was vermutlich damit zusammenhängt, dass die gedankenverlorene Pose hier jeweils Ausdruck des intellektuellen Berufs der beiden dargestellten Wissenschaftler ist. Somit ist der gedankenvolle Habitus hier Insignum des Standes der dargestellten Figur und nicht Ausdruck ihrer spontanen Gemütsverfassung, so wie auf den anderen Gemälden Vermeers.
- Vermeers Gemälde Straße in Delft (1658-60), Rijksmuseum Amsterdam, stellt womöglich das Haus seiner Tante dar. Vgl. Frans Grijzenhout: Vermeer’s Little Street. 2017.
- Vgl. John Michael Montias: Vermeer’s Clients and Patrons. The Art Bulletin 69, 68-67, März 1987. Ders. Vermeer and his Milieu. A Web of Social History. 1989. Hajo Düchting: Jan Vermeer van Delft Im Spiegel seiner Zeit. 2020.